Dienstag, 26. Juni 2012

Jesiden und Eziden




Weltweit gibt es ca. eine Million Jesiden, davon leben die meisten im Irak und ca. 70.000 in Deutschland. Das habe ich am Wochenende während einer Konferenz der "Gesellschaft Ezidischer Akademiker" in Bielefeld gelernt. Lernen sollte ich auch, dass der Mord an Arzu Özmen nichts mit den Jesiden zu tun hat.

Hä?

Da passt doch etwas nicht. Auch wenn mir der Vortrag von Prof. Dr. Ilhan Kizilhan zum Thema "Migration und Identität der Eziden" sonst nicht schlecht gefallen hat: An einigen Stellen war ich mir nicht sicher, ob ich an seinen Worten oder an meinem Verstand zweifeln sollte. So oder so: Die Tatsache, dass eine Veranstaltung mit und über Jesiden in einer solchen Größenordnung und mit Referenten wie Dr. Sefik Tagay, Serhat Ortac, Ali Atalan, Düzen Tekkal, Alya Bayazid, Dr. Khalil Cindi Rascho, Dr. Eskere Boyik und vielen anderen überhaupt stattfand, dass Nicht-Jesiden zur Teilnahme eingeladen waren und auch mehr oder weniger kontroverse Fragen und Diskussionsmomente zugelassen waren, finde ich bemerkenswert.

Während des gesamten Kongresses hatte ich immer wieder den Eindruck, dass es zwischen den Jesiden und meinen plautdietschen Mennoniten eine Menge Parallelen gibt:
  • Sowohl die Jesiden als auch die Russlandmennoniten sind eine weltweit verstreute Gruppe von ca. einer Million Menschen, eher etwas weniger
  • Sowohl die Jesiden als auch die Russlandmennoniten sind eine ethno-religiöse Gruppe und es bleibt häufig unklar, ob gerade über die Gruppe als Relionsgemeinschaft oder als Volksgemeinschaft gesprochen wird.
  • Sowohl die Jesiden als auch die Russlandmennoniten sind eine extrem heterogene Gruppe aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen über Jahrhunderte in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Kulturregionen.
  • Sowohl bei den Jesiden als auch bei den Russlandmennoniten ist ein großer Teil sehr konservativ oder religiös geprägt, während ein anderer großer Teil gar nicht oder kaum von der modernen und säkularen Umgebung hier in Europa oder in Amerika zu unterscheiden ist.
  • In den einzelnen Familien und Gemeinschaften treffen diese heterogenen Welten häufig unfreundlich oder verständnislos aufeinander.
  • Integration ist ein spannendes Thema und sorgt für Spannung! Integration und auch Exklusion finden sowohl in der eigenen Gruppe als auch im Kontext des jeweiligen Gastlandes statt.
  • Es gibt sympathische Genies und radikale Spinner.
Inhaltlich ging es während der beiden Konferenztage auch immer wieder um die Notwendigkeit und Möglichkeit von Reformen. Dabei spielte natürlich auch die Frage eine Rolle, wessen Rechte oder Entscheidungsbefugnisse schwerer wiegen: die der Gruppe oder die der einzelnen Person? Kollektive vs. individuelle Interessen. Ein Reformvorschlag überraschte mich außerordentlich und ich war mir für einen Augenblick nicht sicher, ob ich mich da vielleicht verhört hatte: Dr. Memo Othman, Theologe sowie Ex-Staatsminister aus dem Irak, schlug doch tatsächlich vor, das Jesidentum sollte "missionarisch" werden, sich also öffnen auch für solche Glaubenden, die keiner jesidischen Familie entstammen! Bis jetzt war/ist Jeside, wer als Jeside geboren wird. Wer "fremdheiratet", scheidet aus. Das schwächt und verkleinert auf Dauer die Gruppe und man ist auf der Suche nach Lösungen...

Mutig und richtig fand ich den Beitrag von Sundus Salim Elnecar. Die Schriftstellerin aus Wien forderte die Jesiden dazu auf, mit der Praxis der Ehrenmorde aufzuhören und diese auch in öffentlichen Stellungnahmen klar abzulehnen. Leider wurde der Themenblock "Die Rolle der Frau im Ezidentum" von den Veranstaltern auf den späten Abend verlegt.

Schade, dass weder der Bielefelder Oberbürgermeister Pit Clausen noch Mir Tahsin Sahid Beg, Oberhaupt der Jesiden, anwesend waren. Beide waren im Programm angekündigt. Und schade auch, dass der größte Teil der Konferenz in kurdischer Sprache abgehalten wurde - was ja kein Problem gewesen wäre, wenn es denn Dolmetscher gegeben hätte. Absicht?

Die Konferenz fand am 23. und 24. Juni 2012 in Bielefeld (Neues Rathaus) statt und wurde von der Gesellschaft Ezidischer AkademikeriInnen (GEA) mit Unterstützung der Stadt Bielefeld (Integrationsamt) organisiert. Hier ist ein Link zum Programm.

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